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Protest ohne Struktur

News Europawahlen Zu Gast im Land Außenpolitik Anne Daems

Was in Frankreich als legitime Forderung nach mehr politischem Mitspracherecht begonnen hat, ist in kürzester Zeit zu einem erschreckend aggressiven und hasserfüllten Protest ausgeartet. Die gelben Westen werden die Geister nicht mehr los, die sie gerufen haben.

Sucht man heute, fünf Monate nach den ersten Protesten, nach den Ursprüngen der Bewegung, stößt man im Internet auf vier Namen, die zu den Initiatoren und Sprechern gezählt werden. Daneben wimmelt es aber von weiteren Namen, die die Ursprünge der Bewegung für sich beanspruchen. Außerdem hat ein jeder seine eigenen Beweggründe, wieso er sich den Gelbwesten angeschlossen hat. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer.

Emmanuel Macron hat es seinen Landsleuten bereits vor zwei Jahren vorgemacht, als er die Franzosen mit seiner Bewegung „En marche!“ aufforderte, ihr Land wieder auf Kurs zu bringen. Es gelang dem heutigen Präsidenten, eine Welle der Euphorie zu erzeugen, die die Menschen hoffen ließ. Vor allem aber ist seine Initiative im Vorfeld akribisch geplant und anschließend von seinem Team umgesetzt worden.

All dies fehlt den Gelbwesten: Weitsicht, eine Struktur, ein Konzept und vor allem eine Identifikationsfigur. Aus einer Vielzahl an Überzeugungen hat sich ein wirres und gefährliches Durcheinander entwickelt. Die Bewegung läuft nun Gefahr, von den alteingesessenen Führungsriegen des „Rassemblement National“ und der „France insoumise“ geschluckt und zusehends radikalisiert zu werden. Der Unmut der ursprünglichen Gelbwesten, die sich über diese Vereinnahmung beschweren, wird immer größer.

Sollten die Gelbwesten Ende Mai bei den Europawahlen antreten, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Einzug ins Europaparlament schaffen. Um aber weiterhin ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen und Gehör zu finden, müssten sie Einigkeit zeigen und mit einem Programm und einem Konzept antreten, das ihre Ausrichtung stützt, damit sie sich einer Gruppierung im Parlament anschließen können.

Den konventionellen Parteien ist zu wünschen, dass sie den eigentlichen Aufschrei der Menschen nicht überhört haben und die entsprechende Antwort finden. Präsident Macron hat einen ersten Schritt in diese Richtung gemacht, indem er Bürgerdialoge einberufen hat. Die Menschen werden ihren Unmut auch in Zukunft auf die Straße tragen. Dem kann man durchaus viel Gutes abgewinnen, wie wir am Beispiel der teils sehr jungen Demonstranten für den Klimaschutz feststellen können. Es ist wichtig und richtig, dass engagierte Bürger ihrer Stimme Gehör verschaffen, maßgebend ist aber schlussendlich, dass die Politik ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Macron sucht nun den Austausch; dabei sollte er sich bewusst sein, dass die Bewegung der Gelbwesten ebenfalls eine Bewährungsprobe für die politischen Parteien ist, um die Politik wieder von der Straße zurück in die politischen Strukturen zu tragen. Solch eine Herkulesaufgabe kann die Politik aber nur zusammen mit den Bürgern vollziehen, wenn das „Chaos der Zerstörung“ in ein „Chaos der Ordnung“ umgewandelt werden soll. Die Parteien brauchen ihre Bürger und Letztere brauchen funktionierende und faire politische Institutionen. Liberale und demokratische Parteien sind richtig aufgestellt, um diesen Dialog zu ermöglichen. Es obliegt der Politik, den Menschen Orientierung und Sicherheit zu bieten, indem sie sich auf ihre fundamentalen Aufgaben konzentriert und diese auch sichtbar macht. Gleichzeitig muss der Bürger dazu bereit sein, seine Politikverdrossenheit in eine Bereitschaft zum Dialog umzuwandeln und sich auf dieses spannende Miteinander einzulassen.

Anne Daems ist DP-Kandidatin bei den nächsten Europawahlen.

 


Anne Daems